Y-Chromosom: Ein Winzling mit ungeahnter Macht | NZZ (2024)

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Der Mann sterbe aus, weil sein Erbgut verkümmere, sagten Forscher voraus. Doch nun steht fest: Das Y-Chromosom ist viel zu wichtig, als dass es verschwindet.

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Am Anfang eines jeden Kerls steht ein kümmerliches Häufchen Erbgut. Das Y-Chromosom, dessen Gene den Mann erst zum Mann machen, wirkt in der Gesamtheit des menschlichen Chromosomensatzes wie ein degenerierter Winzling. Und das ist es im Grunde auch: Seit das Y besteht, hat es 97 Prozent seiner Gene für immer verloren.

Der Zerfall werde weiter voranschreiten, prophezeiten Forscher, und das Chromosom könnte in einigen tausend Generationen gänzlich verschwunden sein. Doch gleich mehrere Studien geben Entwarnung. Sie zeigen, dass das kleine Erbgutstück doch wichtiger ist, als gemeinhin angenommen.

«Das Y-Chromosom wird wohl noch eine ganze Weile unter uns bleiben», sagt Melissa Wilson Sayres. Die Evolutionsbiologin von der Berkeley-Universität in Kalifornien untersuchte mit ihren Kollegen die DNA von acht Europäern und acht Afrikanern. «Wir waren überrascht, wie stark sich die Y-Chromosomen dieser Männer ähnelten. Ihre restlichen Chromosomen zeigten eine viel grössere genetische Vielfalt», sagt Wilson Sayres. «Selektionsprozesse haben die männlichen Geschlechtschromosomen gewissermassen veredelt.»

Demzufolge hat die Evolution das Y-Chromosom so weit zurechtgestutzt, bis es nur noch seine essenziellen Bestandteile enthielt. Und die scheinen derart wichtig zu sein, dass sie in der Männerwelt bis heute beinahe unverändert verbreitet sind.

Master-Gen der Männlichkeit

Die Ursprünge des menschlichen Y-Chromosoms liegen in jener fernen Zeit, als die Säugetiere neu auf der Erde waren. Die frühen Versionen der Geschlechtschromosomen X und Y verhielten sich damals noch gleich wie die anderen Chromosomenpaare, auf denen die DNA aufgewickelt ist: Mit jeder Generation tauschten sie einige Gene untereinander aus. Die Urversion des Y-Chromosoms enthielt bereits das Master-Gen SRY, das in seinem Träger die Kaskade der Männlichkeit in Gang setzt: Es schaltet DNA-Sequenzen an, die die Bildung von Hoden und Penis steuern. Aus XY-Individuen entstehen seither Männchen, aus XX-Individuen Weibchen.

Ein entscheidender Wandel setzte jedoch ein, als sich weitere Männlichkeits-Gene, die unter anderem die Entwicklung der Hoden oder des Spermas beeinflussen, zum SRY gesellten. Weil diese für die Weibchen schädlich waren, hörten die beiden Geschlechtschromosomen damit auf, Gene auszutauschen. Anders als das X-Chromosom, das bei Weibchen noch immer doppelt vorkam, hatte das Y damit keinen Tauschpartner mehr. Dadurch konnte es Fehler nicht mehr beheben und verlor fortwährend an Substanz.

Unterschiedliche Männchen

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Die Stachelratte Tokudaia osimensis lebt auf einer japanischen Insel. Ihre Männchen haben das Y-Chromosom verloren.

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Beim Mississippi-Alligator hängt es von der Bruttemperatur ab, welches Geschlecht die Jungtiere haben werden.

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Das männliche Schnabeltier hat fünf Y- und fünf X-Chromosomen. Das Weibchen besitzt gleich zehn X-Chromosomen.

Erst seit kurzem ist bekannt, wie alt das Y-Chromosom der Säugetiere überhaupt ist. Schweizer Wissenschafter um Diego Cortez von der Universität Lausanne haben in einer Genomstudie an 15 Säugetierarten ermittelt, dass sich das geschlechtsbestimmende Gen der Plazenta- und der Beuteltiere bei einem ihrer gemeinsamen Vorfahren vor rund 180 Millionen Jahren entwickelt hat.

Bei den Kloakentieren, einer dritten Untergruppe der Säugetiere, zu denen die eierlegenden Schnabeltiere gehören, tauchte das entsprechende Gen 5 Millionen Jahre später auf. «Was vor dem Erscheinen des Y-Chromosoms bestimmte, ob ein Individuum männlich oder weiblich zur Welt kam, wissen wir nicht», sagt Cortez.

Andere Tierarten zeigen jedoch mögliche Alternativen auf. So entscheidet bei manchen Reptilien wie dem Mississippi-Alligator die Temperatur im Gelege das Geschlecht. Ist es 32 bis 33 Grad warm, entstehen in den Eiern Männchen, bei kühleren Bedingungen Weibchen. Ein weit bizarrerer Mechanismus bestimmt beim Igelwurm Bonellia viridis, der im Mittelmeer heimisch ist, die geschlechtliche Zugehörigkeit. Trifft eine frei schwimmende Larve auf ein erwachsenes weibliches Exemplar, entwickelt sie sich zu einem Männchen, andernfalls zu einem Weibchen.

Es geht auch ohne Y-Chromosom

Dass die Befürchtungen jener Forscher, die einen menschlichen Chromosomensatz ohne Y voraussagten, keineswegs aus der Luft gegriffen sind, zeigt sich bei einer japanischen Stachelrattenart: Bei ihr kommen die Männchen bereits heute mühelos ohne Y-Chromosom aus. Wie es die Stachelratten trotzdem bewerkstelligen, sich in Männlein und Weiblein aufzuteilen, ist unbekannt.

Auch bei Labormäusen ist es Forschern unlängst gelungen, mit lediglich zwei Y-Genen, ganz ohne männliches Geschlechtschromosom, gesunden Nachwuchs zu erzeugen. Allerdings glaubt Genomforscher Cortez nicht, dass sich das Y auch beim Menschen verabschieden wird. «Es besitzt zu viele Schlüsselfunktionen», sagt er. Seine Untersuchungen zeigen, dass das Y-Chromosom vor allem zu Beginn seiner Existenz massiven Schrumpfungsprozessen ausgesetzt war, in den letzten Jahrmillionen aber erstaunlich stabil blieb.

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Während auf dem menschlichen X-Chromosom noch mehr als 1000 Gene vorhanden sind, befinden sich auf dem Y mittlerweile nur rund 30 - und die haben eine unterschiedliche Geschichte. Einige davon sind kopierte X-Sequenzen, andere stammen von einem der übrigen Chromosomenpaare. Nur 19 Gene befinden sich seit je auf dem männlichen Geschlechtschromosom.

«Vergleicht man die Liste aller ursprünglichen Y-Gene mit der Passagierliste der <Titanic>, sind es diese Gene, die es in ein Rettungsboot geschafft haben», erklärt der Evolutionsbiologe Daniel Bellott vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Gemeinsam mit seinen Forscherkollegen wollte er wissen, ob die Überlebenden nur Glück hatten oder ob sie aus einem besonderen Grund durchkamen.

Die Ergebnisse ihrer Studie, in der die Wissenschafter das Erbgut von acht Säugetieren einschliesslich des Menschen analysierten, haben sie im Fachblatt «Nature» publiziert. Es zeigte sich, dass die geretteten Gene tatsächlich besonders sind, weil sie in verschiedensten Geweben an der Regulation anderer Gene beteiligt sind. «Wir glauben, dass die noch immer vorhandenen Ur-Gene des Y-Chromosoms für das Überleben männlicher Individuen unentbehrlich sind», sagt Bellott. «Denn menschliche Embryonen, die nur über ein X-Chromosom verfügen, sind in aller Regel nicht lebensfähig.»

Verschiedene Schwestergene

Die urtümlichen Y-Gene verfügen über eine weitere Eigenart: Sie besitzen noch immer ein Gegenstück auf dem X-Chromosom, schliesslich bildeten das X und das Y einst ein vollwertiges Chromosomenpaar mit gleichen Erbanlagen. Im Verlauf ihrer unabhängigen Evolution haben sich diese Schwestergene allerdings auseinanderentwickelt. «Sie enthalten die Baupläne für verschiedene Varianten desselben Proteins», sagt Bellott.

Das bedeutet, dass sich die Vorgänge in den Zellen von Männern und Frauen voneinander unterscheiden, noch bevor überhaupt Geschlechtshormone ins Spiel kommen. Laut dem Forscher könnte das gravierend sein: Es sei gut möglich, dass Krankheiten, die eher unter Männern verbreitet sind - wie etwa Autismus -, eine Konsequenz dieser Unterschiede darstellten.

Das mickrige Y-Chromosom ist also alles andere als unbedeutend. In den biochemischen Prozessen männlicher Körper mischt es kräftig mit. Bellott ist sich jedenfalls sicher: «Das Y hat mehr Aufmerksamkeit verdient - in allen Bereichen biomedizinischer Forschung.»

Warum es Männchen braucht

Es ist erstaunlich: Nur die Hälfte der Individuen einer Art kann Nachkommen gebären. Die andere Hälfte, die Männchen, wird aufwendig grossgezogen, nur damit diese irgendwann einmal einige Samen spenden. Viel effizienter wäre doch, wenn alle Individuen Kinder auf die Welt setzten. Wie bei der in Texas lebenden Rennechse namens Cnemidophorus laredoensis. Diese Spezies ist ein reiner Frauenklub, die Weibchen legen Eier, aus denen ihre eigenen Klone schlüpfen. Weshalb leben nicht alle Tiere so, wieso leistet sich die Natur den verschwenderischen Luxus des männlichen Geschlechts?

Nach Ansicht der meisten Biologen ist die Erfindung des Sex - und damit des zweiten Geschlechts - die clevere Antwort auf Störenfriede wie Bakterien, Viren und Einzeller. Wenn nämlich die Individuen einer Population vollkommen identisch sind, haben Krankheitserreger leichtes Spiel. Sobald sie es geschafft haben, das Immunsystem eines einzelnen Tieres auszutricksen, sind sie in der Lage, die ganze Gemeinschaft auszurotten. Indem aber bei der Verschmelzung von Spermium und Eizelle in jeder Generation neue Genkombinationen entstehen, haben Tiere, die sich sexuell fortpflanzen, stets wieder eine neue Chance, sich an die gefährliche Umwelt voller Erreger und Parasiten anzupassen.

Die Männer sind also nichts weiter als die Hüter der genetischen Variation. Und damit haben sie Erfolg: Immerhin vertrauen mehr als 99,9 Prozent aller Tiere auf das beschwerliche, aber auch interessante Fortpflanzungsmodell mit Mann und Frau.
Martin Amrein

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